Die Angelegenheit ist nicht neu. Schon kurze Zeit nachdem im Jahr 1971 die New Yorker United Graffiti Artists für eine Kunstausstellung im City College Leinwände und nicht mehr U-Bahnen besprühten, war schnell vom Ausverkauf und Untergang der authentischen Graffitikultur die Rede. Mittlerweile hängen die Werke der Urenkel der damaligen Pioniere in den Galerien und Museen der Welt – und dennoch sind die wilden Schriften und schrägen Figuren aus den städtischen Räumen nicht wegzudenken. Zu den gesprühten Namenszügen der Writer haben sich vor allem in den vergangenen beiden Jahrzehnten allerlei Ausdrucksformen gesellt, die mit dem Begriff „Street Art“ gefasst werden können und sich aufgrund ihres augenscheinlichen visuellen Kommunikationswillens in der Regel größerer Beliebtheit von Seiten szenefremder Betrachter erfreuen.
Der Deutung dieser Schablonensprühereien, Aufkleber und sonstigen grafischen und plastischen Interventionen widmet sich Claudia Wilms in Ihrem Buch Sprayer im White Cube. Anhand kulturanthropologischer Ansätze untersucht sie Street Art hinsichtlich ihres subkulturellen und subversiven Gehalts und hinterfragt das Verhältnis ihrer Urheber zum Vorwurf des Sell-Out und der Vereinnahmung vor dem Hintergrund der Ausstellungsobjekt- und Waren-Werdung ihrer Werke. Dies gelingt ihr in sehr anschaulicher Weise unter Einbezug der Prozesse Ästhetisierung, Romantisierung und Kommerzialisierung und mit einem wachen Blick auf die Kommunikationsfunktion und die Wirksamkeit von Street Art im öffentlichen Raum. Als empirische Grundlage dienen Wilms dabei eine Reihe von Interviews, die sie mit Akteuren des aktuellen Street Art-Geschehens im deutschsprachigen Raum geführt hat – und dazu zählt sie zu Recht nicht länger nur die aktiven Sprüher und Kleber selbst, sondern mittlerweile auch Kuratoren und Ausstellungsveranstalter.
Das Phänomen der Migration unkommerziellen Ausdrucks von der Straße in die weißen Hallen der Institution Kunst ist wie gesagt kein neues. Doch Wilms Untersuchung liefert dazu nun eine umfassende Interpretation, und das auf eine angenehme, ehrlich-kritische Art.
(Matze Jung // Journal der Jugendkulturen No. 16, Frühjahr 2011)
–
Claudia Willms: Sprayer im White Cube
Tectum Verlag, Marburg 2010
Paperback, 120 Seiten, 24,90 Euro