Am 08.4.2012 veröffentlicht der Tagesspiegel in seiner Sonntagsausgabe einen ganzseitigen Artikel über die Ansichten des Sprühers Tim von der Berliner 1UP Crew (Im Farbrausch). “Verärgert” ob seiner Lektüre zum Sonntagsfrühstück beschwert sich daraufhin der Leser Wolfgang Both über diese Art der Berichterstattung und fordert vom Tagesspiegel einen “Beitrag GEGEN die Verwahrlosung in unserer Stadt”.
Am 15.4.2012 veröffentlicht der Tagesspiegel unter der Überschrift “Ist Graffiti in Berlin Kunst oder Verunstaltung?” einen Beitrag von Matze Jung, der eine differenzierte Diskussion zur Graffitiproblematik gutheißt, die angewandten “Zero-Tolerance-Strategien” verurteilt und Alternativen zum bisher erfolglos erprobten repressiven Umgang mit Graffiti vorschlägt.
Auch darauf gibt es wieder Leserbrief-Reaktionen. Exemplarisch sei hier auf ein Zitat aus Bernd Albrechts Leserbrief verwiesen: “Hier hilft nicht verständnissvolles Mulikulti getue sondern nur die volle härte der Gesetzes, wenn die Stadt bewohnbar bleiben soll. Das gleiche gilt auch für die kriminellen Großfamilien , die sich auf unseren Straßen schlachten liefern“ (sic). Beiträge wie dieser zeugen vom starr konservativen (sowie fremdenfeindlichen) Wertesystem des Urhebers und tragen leider kaum zu einer konstruktiven Auseinandersetzung bei, reichen sie doch nicht über die üblichen Forderungen nach der vielbeschworenen “starken Hand des Gesetzes” hinaus. Eine Auswahl weiterer Leser_innenmeinungen lassen sich hier finden.
Es bleibt trotzdem zu hoffen, dass eine Fortführung der Diskussion nicht im Sande verläuft, sondern diese sachlich weitergeführt wird. Über Ihre Meinungen und Anregungen an graffiti@jugendkulturen.de würden wir uns freuen! Als Anregung hier noch einmal unser Beitrag im Tagesspiegel in voller Länge:
Ist Graffiti in Berlin Kunst oder Verunstaltung?
Tagesspiegel, 15. April 2012
Nachdem Sie in der Wochenendbeilage den Sprayern und ihren Sachbeschädigungen eine ganze Seite gewidmet haben, erwarte ich in den nächsten Ausgaben mindestens eine Seite über all die Menschen, die sich mit diesen Vorfällen beschäftigen müssen, von den Handwerkern, die das wieder beseitigen, den S-Bahnern und BVGern, die sich Angriffen aussetzen, über die „Cops“ bis hin zu den Richtern und Staatsanwälten. Was verdient die Farbenindustrie an „Molotow“ und anderen Kiloangeboten? Was kostet uns das? Letztlich den Kunden und Steuerzahler. Leisten Sie einen Beitrag gegen die Verwahrlosung in unserer Stadt!
Wolfgang Both, Berlin-Mahlsdorf
Sehr geehrter Herr Both,
ich kann Ihre Aufregung und Unsicherheit verstehen und möchte die von Ihnen angesprochenen Aspekte um einige Gedanken ergänzen. Zunächst bleibt festzuhalten, dass der Beitrag „Im Farbrausch“ keinesfalls glorifizierend über das Phänomen Graffiti berichtet, sondern ein eher düsteres Bild zeichnet. Ich bin der Meinung, dass eine solche Reportage für einen differenzierten Blick auf diese Subkultur sinnvoll sein kann und teile voll und ganz Ihre Auffassung, dass eine öffentliche Diskussion zum Thema längst überfällig ist.
Die politischen Bemühungen im Kampf gegen Graffiti liefen sowohl auf Berliner als auch auf internationaler Ebene bisher größtenteils ins Leere. Seit Jahrzehnten klammern sich die Öffentlichkeit und die staatlichen Verfolgungsbehörden an die Hoffnung, die Graffitikultur mit verschärfter Repression in die Schranken verweisen zu können. Mit wachem Auge auf die neuesten Kniffe der jeweils anderen Seite entwickelte sich zwischen Polizei und Sprühern jedoch eine technische wie auch taktische Aufrüstungsspirale, die das bunte Treiben heute maßgeblich bestimmt. Oft hört man den Kommentar „Gegen Graffitis, die gut gemacht sind, habe ich nichts, aber diese Schmierereien finde ich furchtbar.“ Kaum jemand hinterfragt allerdings, was die Illegalisierung und verschärfte Verfolgung der Sprüher mit den für viele unbefriedigenden Werken zu tun hat.
In Berlin wurden in den letzten Jahren zahlreiche legale Graffiti-Flächen geschlossen oder mit unerfüllbaren Auflagen versehen. Die Stadt verfolgt eine schleichende Null-Toleranz-Politik, die nur zu einer Radikalisierung der Szene führen konnte. Eine öffentliche Diskussion hierüber zu führen wäre sinnvoller als die ungeprüfte Veröffentlichung horrender Schadenssummen und Kriminalitätsstatistiken, die von der Polizei, den Parteien, der BVG/DB mit politischem und/oder wirtschaftlichem Kalkül veröffentlicht werden. Rechtsanwälte, die regelmäßig festgenommene Sprüher verteidigen, können bestätigen, dass die Bahnunternehmen oft mit völlig überzogenen Schadensersatzforderungen in den Prozess gehen, die dann einer sachlichen Überprüfung in den seltensten Fällen standhalten. Der Senat kann seinerseits die populäre Forderung nach mehr repressiven Maßnahmen gegen Sprüher mit Verweis auf die aufgewendeten Finanzmittel zur Graffitientfernung begründen.
Die Empörung über Graffiti beruht aber nicht allein auf politischen Interessen, die auf unterschiedlichen ästhetischen Vorlieben im Hinblick auf graue Wände und gleichmäßig lackierte Bahnen basieren. Es geht um weit mehr. Wie die Urteilsbegründung im Fall des 1984 inhaftieren Sprayers von Zürich zeigte, gelang es diesem mittels seiner gesprühten Strichmännchen „die Einwohner … zu verunsichern und ihren auf unserer Rechtsordnung beruhenden Glauben an die Unverletzlichkeit des Eigentums zu erschüttern.”
Sprüher betonen die öffentliche Funktion städtischer Räume, indem sie private Eigen- tumstitel nicht anerkennen und die gesellschaftliche Ordnung hinsichtlich der Gestaltungshoheit von Fassaden und Wänden durcheinanderbringen. Auf genau dieser Tatsache jedoch, dass die farbigen Eingriffe in das Stadtbild unerlaubt auftauchen, fußt der Reiz etlicher Berliner Kieze zu einem gewissen Teil. Ihre überraschende Lebendigkeit bildet einen Gegenpol zu den bisweilen nahezu sterilen Räumen einiger neu sanierter Stadtviertel. Der Tourismus, eine der Haupteinnahmequellen der Stadt Berlin, funktioniert übrigens derzeit auch wegen Graffiti so gut. Es gehört zum „kreativen Image“ der Stadt und Graffiti-Fotos zieren selbst die stadteigenen Broschüren. Für den Umgang mit Graffiti und Streetart lohnt sich zum Beispiel auch ein Blick nach Lateinamerika, wo künstlerischen Ausdrucksformen eine höhere gesellschaftliche Wertschätzung entgegengebracht wird und der diesbezügliche Gesetzesrahmen meist sehr lax ausgelegt wird. Dadurch konnten sich in vielen Städten reichhaltige und qualitativ hochwertige Straßenkunstszenen entwickeln, die einen wertvollen Beitrag zur demokratischen Auseinandersetzung in öffentlichen Räumen leisten.
Da auch hierzulande unerlaubte kreative Eingriffe in das Erscheinungsbild unserer Städte aller Voraussicht nach in naher Zukunft nicht merklich zurückgehen werden, schlage ich vor, die bemängelte „Unordnung“ als Chance zu erkennen, diese zuzulassen und nicht als Zeichen mangelnder Kontrolle zu geißeln.
— Matze Jung, Diplom-Geograf, Referent am Archiv der Jugendkulturen e.V. und Mitarbeiter in der Abteilung Graffiti und Streetart.